Der deutsche Europa-Staatssekretär Michael Roth bedauert, dass Marokko seine perspektivlosen Jugendlichen als politisches Druckmittel einsetzt
Von ELENA G. SEVILLANO Erschienen am 28. MAI 2021 In EL Pais

Der deutsche Staatssekretär für Europaangelegenheiten, Michael Roth (Heringen, Deutschland, 50), antwortet sowohl aus seiner Position in Angela Merkels großer Koalitionsregierung als auch aus seiner sozialdemokratischen Militanz heraus. Wie Olaf Scholz, der Kandidat seiner Partei für die Bundestagswahl im September, ist er dafür, die Wirtschaftsreform der EU voranzutreiben und Eurobonds auszugeben, was die Konservativen ablehnen. Nach der Migrationskrise in Ceuta und den ständigen Ankünften in Lampedusa hält er einen europäischen Pakt zu Migration und Asyl für dringender denn je. In einem virtuellen Interview mit EL PAÍS und zwei weiteren Korrespondenten der Allianz europäischer Zeitungen LENA begrüßt Roth die schnelle Reaktion der EU auf den “Staatsterrorismus” des weißrussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko, der am vergangenen Sonntag ein Flugzeug umleiten ließ, um einen Aktivisten zu verhaften.
Frage: Wie kann Lukaschenko persönlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn er den Dissidenten-Blogger Roman Protasewitsch nicht freilässt?
Antwort. Gegen belarussische Einzelpersonen wurden bereits persönliche Sanktionen verhängt. Dies ist eine Reaktion auf die Weigerung der Machthaber, freie Wahlen zuzulassen, und ihre Praxis der Verfolgung und Inhaftierung von Gegnern. Herr Lukaschenko kann sich darauf verlassen, dass wir ihn genau beobachten. Wir müssen uns vor allem auf das Finanznetzwerk konzentrieren, aus dem das Regime in Minsk versorgt wird.
P. Es ist noch unklar, ob Russland an der Operation beteiligt war, aber es gab keine Verurteilung aus dem Kreml, und einige hochrangige Politiker in Moskau haben applaudiert. Welche Konsequenzen könnte das haben?
R. Zunächst einmal muss das Geschehene schnell und vollständig aufgeklärt werden. Wir können das nicht durchgehen lassen. Jeder weiß, dass sich das Verhältnis zwischen Europa und Russland in einem komplizierten Moment befindet. Denn Russland betreibt eine zerstörerische Politik, die gegen das Völkerrecht verstößt und Europa, insbesondere Deutschland, in die Irre führen soll. Die jüngsten Signale aus den Vereinigten Staaten machen mir jedoch Mut. Präsident Biden hat einem hochrangigen Treffen mit Putin im Juni zugestimmt. Es wäre sehr besorgniserregend, wenn Russland diese ausgestreckte Hand nicht annehmen würde, um endlich in Gespräche einzutreten.
P. Trotz allem setzt Deutschland den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 aus Russland fort, auch nach Protesten der europäischen Partner. Wie passt das zusammen?
R. Wir sind besorgt um die Sicherheit der Energieversorgung für ganz Europa. Dutzende von Unternehmen aus 12 EU-Mitgliedsstaaten sind an Nord Stream 2 beteiligt. Bundeskanzlerin Merkel hat sich mit Präsident Putin darauf geeinigt, dass auch die Ukraine von dem Gastransit profitieren wird. Der Schlüssel zu einer mittel- und langfristigen Unabhängigkeit von Russland liegt in der Diversifizierung der Energieversorgung und deren nachhaltiger und effizienter Gestaltung.
P. Kürzlich haben die USA überraschend verkündet, dass sie nicht beabsichtigen, weitere Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhängen. Hat Deutschland irgendwelche Zugeständnisse gemacht, wie zum Beispiel den Kauf des Gases, das die USA durch Fracking erhalten?
R. Es gibt keine solche Verpflichtung. Solche Forderungen hätte man von der vorherigen Verwaltung erwartet, aber nicht von der aktuellen. Das Projekt ist fast abgeschlossen und sollte nicht als Spielzeug in den transatlantischen Beziehungen verwendet werden. Die europäische und deutsche Politik muss die Versorgung aller Partnerländer sicherstellen. Das primäre Ziel ist der Strukturwandel hin zu erneuerbaren Energien, aber wir brauchen auch eine zuverlässige Versorgung für den Übergang.
P. Die Krisen in Ceuta und Lampedusa zeigen, dass die Migrationsfrage in der EU ungelöst ist. Ist Deutschland bereit, Migranten aus Italien aufzunehmen?
R. Was wir dringend brauchen, ist eine gemeinsame EU-Migrations- und Asylpolitik. Wir müssen das Thema ganz oben auf der Tagesordnung halten. Und wir dürfen nicht zulassen, dass einige Mitgliedsstaaten ein Auge zudrücken oder sich ganz und gar weigern, eine Lösung zu finden. Doch wenn ein gemeinsamer Migrationspakt scheitert, bleibt nur eines: eine verlässliche Koalition der Solidarität und Menschlichkeit einiger weniger Staaten, die füreinander einstehen und dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden und niemand mehr im Mittelmeer um sein Leben fürchten muss.
F. Ist es fair, einigen Ländern Geld für die Aufnahme von Migranten zu geben, während andere sich weigern?
R. Ich sage das aus der Sicht eines Sozialdemokraten: Sie diskutieren Punkte, denen man nur schwer zustimmen kann. Aber die Frage ist jetzt, ob die EU einen Pakt hinbekommt, der weitergehen kann. Wir haben seit Jahren das gleiche Problem. Die bisher gefundenen Ad-hoc-Lösungen, an denen Deutschland immer beteiligt ist, sind mühsam, zeitaufwendig und alles andere als nachhaltig. Wir können so nicht weitermachen. Manchen mag es schwerfallen zu akzeptieren, dass einige Mitgliedstaaten keinen einzigen Einwanderer aufnehmen wollen. Der Vorschlag der Kommission ist nicht ideal, aber er versucht, verschiedene Interessen auf pragmatische Art und Weise zusammenzubringen.
P. Die EU zahlt Millionen an Marokko und plötzlich öffnet das Land seine Grenze. Glauben Sie, dass das, was in Ceuta passiert ist, eine Erpressung ist und sich mit anderen Ländern wiederholen kann?
R. Die EU hilft Ländern wie Marokko, ihren jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Arbeitsplätze zu schaffen. Aber ich habe den Eindruck, dass junge Menschen ohne Perspektive zu einem politischen Druckmittel für die Machthaber werden. Das ist zynisch. Die EU darf sich nicht erpressen lassen. In dieser Hinsicht bin ich sehr schockiert über die Bilder aus Ceuta.
P. Lampedusa hat den Rechtspopulisten in Italien, wie Matteo Salvini, wieder einmal einen Denkzettel verpasst. Die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni hat in den Umfragen die Demokratische Partei überholt. In Spanien versucht Vox, die Krise in Ceuta für sich zu nutzen. Machen Sie sich Sorgen, dass das Thema Migration den Rechten in Europa wieder Flügel verleiht?
R. Ich bin dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi sehr dankbar, dass er das Thema Migration auf die Tagesordnung eines der kommenden europäischen Gipfeltreffen setzen will. Wir sind spät dran mit den grundlegenden Reformen der Migrations- und Asylpolitik. Und es liegt nicht in unserem Interesse, dass das Scheitern einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik dazu führt, dass Nationalisten und Populisten immer stärker werden und die Demokratie mehr unter Druck setzen. Das sind keine innenpolitischen Themen mehr. In der Europäischen Union sind wir alle eng miteinander verbunden. Wir müssen eine Brandmauer gegen Propaganda und gegen die Angstkampagnen und Lügen der Nationalisten und Populisten in der gesamten Europäischen Union aufbauen.
P. Der deutsche Außenminister Heiko Maas warnte kürzlich, dass die EU-Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan in eine finanzielle Abhängigkeit von Peking geraten. Was kann dagegen getan werden?
R. Hier zeigt sich bereits das Problem: China schafft es, den falschen Eindruck zu erwecken, dass seine Investitionen auf dem Westbalkan unverzichtbar sind. Dafür gibt es aber keine Grundlage. In Wirklichkeit ist die EU der mit Abstand größte Investor in der Region. Wir müssen aggressiver gegen Chinas Desinformationskampagnen vorgehen.
F. Welche Zugeständnisse sollte die EU auf dem Balkan machen? R. Ich würde mich freuen, wenn alle in der EU die große Gefahr eines strategischen Rückzugs aus Europa erkennen würden. Das Vakuum würde sofort von Ländern gefüllt werden, die unsere Werte nicht teilen. Wir müssen unseren Zeitplan einhalten, zum Beispiel bei der Visaliberalisierung mit dem Kosovo. Ich lege mich nicht auf Daten fest, aber Albanien und Nordmazedonien haben die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen längst erfüllt. Sich dem zu widersetzen, ist politisch kurzsichtig. Der westliche Balkan ist die Nachbarschaft Europas; wenn dort Versöhnung, Frieden, Stabilität, Freiheit und Demokratie gefährdet sind, haben wir ein riesiges Problem.
P. In einigen EU-Ländern, wie z.B. Bulgarien oder Rumänien, ist die Rechtsstaatlichkeit ein großes Problem. Wie will die EU mit den neuen Kandidaten verhindern, dass sich das wiederholt?
R. In früheren Erweiterungsrunden lag der Schwerpunkt oft auf den technischen Details des Binnenmarktes. Kommen wir nun zur Sache: Wie steht es um die Unabhängigkeit der Justiz? Wie steht es um die Vielfalt der Medien? Dabei geht es nicht nur um wirtschaftlichen Fortschritt und Kohäsionspolitik. Wenn wir das jetzt ein für alle Mal klären, sparen wir später eine Menge Zeit.
P. China hat auch viel Einfluss in EU-Ländern wie Ungarn, Portugal und Griechenland. Sie können Pekings Tor zu Europa werden.
R. Ich habe nicht den Eindruck, dass Länder wie Ungarn auf die Milliarden, die sie von der EU für den Aufbau der Infrastruktur erhalten, verzichten wollen. Letztlich müssen diese Länder aber auch selbst entscheiden, inwieweit sie vertragstreue Mitglieder der EU sein wollen und gleichzeitig Verpflichtungen gegenüber China eingehen. Gegen den Handel mit China ist nichts einzuwenden, das tut Deutschland ja auch. Aber es muss immer klar sein, dass wir uns nicht erpressen lassen; es darf zum Beispiel niemals Zugeständnisse bei den Menschenrechten geben.
P. Es war schwierig, einen Mechanismus für finanzielle Sanktionen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit einzuführen. Allerdings könnte das Verfassungsgericht in Warschau bald entscheiden, dass EU-Recht in Polen nicht bindend ist, und in Ungarn gibt es ähnlichen Widerstand. In Ungarn gibt es eine ähnliche Opposition. Wie glaubwürdig ist der Mechanismus?
R. Der Mechanismus benötigt noch das grüne Licht des Europäischen Gerichtshofs. Aber ich habe keine Zweifel daran. Am Ende wird niemand mehr damit durchkommen können. Das ist es, was alle Mitgliedstaaten verstehen sollten. Wir können Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene nur dann glaubwürdig verteidigen, wenn wir innerhalb der EU keinen Raum für Zweifel an der Stärkung und Verteidigung unserer Grundwerte lassen.