
Kolumne von ASIS AYNAN am SONNTAG, 07. MÄRZ 2021
Warnung: der folgende Text beschreibt Folter
Es war keine Diskussion oder eine Abrechnung, nicht einmal ein Bericht. Eher ein Zeugnis, aber das wird der Geschichte des Mannes im Gespräch auf der Plattform des Rif-Deutschen Yuba nicht gerecht. Ich hoffe durch die Magie der Assoziation die richtigen Worte zu finden.
Diese Geschichte des Mannes namens Ali Aarrass (58) war in der niederländischen Presse praktisch nicht zu finden. Das einzige, was ich gefunden habe, war ein Hinweis auf eine gut gemeinte Aktion von Amnesty International. In dem Beitrag vom 03. November 2015 heißt es: ‘Außerdem geht ein Brief an die marokkanischen Behörden wegen Ali Aarrass raus. Amnesty fordert die marokkanische Regierung nach Berichten über Folterungen zur sofortigen Freilassung von Aarrass auf. Aarrass wurde am 29. September letzten Jahres von mehreren Männern in seiner Zelle in Marokko misshandelt.’
Auch der niederländische Dokumentarfilm Der gute Terrorist wies auf das Unrecht hin, das Aarrass angetan wurde. Ich habe den Dokumentarfilm damals im Kino gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass dieser Umstand im Film erwähnt wurde. Dass Aarrass ein Spanisch-Belgier ist, sollte kein Grund für die Unkenntnis der Geschichte sein, denn sie ist so unverständlich wie das sich ständig erweiternde Universum, genauso wie das Unrecht, das Ali Aarrass angetan wurde.
Aarrass wurde am 1. April (!) 2008 in Melilla (Mrietch), wohin er zurückgezogen war, von der Guardia Civil festgenommen und nach Madrid geflogen. Er wurde des Terrorismus verdächtigt. Der spanische Richter hielt den möglichen Terrorismus für unbewiesen, aber Aarrass wurde nicht freigelassen, da auch Marokko ihn verhören wollte. Trotz Protesten von Amnesty, weil in Marokko gefoltert wird, lieferte Spanien ihn am 19. November 2009 aus. Er war bis dahin ein Jahr und sieben Monate lang zu Unrecht inhaftiert worden.
In Marokko angekommen, wurde er mit einer zwölftägigen Foltersitzung empfangen, von der Aarrass im Gespräch mit Yuba erzählte.
Bevor ich Aarrass’ Folter Schritt für Schritt niederschreibe, möchte ich auf die Reaktion des marokkanischen Botschafters in Brüssel eingehen. Er argumentierte mit lauter Stimme, dass die Folterung des Menschenrechtsaktivisten Nasser Zafzafi eine Lüge sei. Während Zafzafi selbst auf einem Tonband sagte, er sei geschlagen und vergewaltigt worden. Dazu sagte der Botschafter, es sei nicht Zafzafis Stimme. Die Verteidigung des marokkanischen Gesandten war eine offizielle Täuschung im Maßanzug. Jeder interessierte Mensch weiß, dass Marokko foltert. Auch ausländische Mächte können in Marokko foltern. Im Land der Oliven und Feigen ist alles käuflich.
Die Schläge beginnen, als Aarrass in ein geheimes Gefängnis bei Rabat gebracht wird. Als sie vor einer Mautstelle anhalten, wird er runtergedrückt. Man darf ihn nicht sehen, so dass er nicht als Verdächtiger eines Rechtssystems erscheint, sondern als Trophäe eines Geheimdienstes.
Sie schlugen Aarrass mit einem Knüppel und einem Gasschlauch auf Füße, Knie und Rücken. Salzwasser wurde auf die Wunden gesprüht. Das Salz in den Wunden desinfiziert und verhindert bakterielle Infektionen, die zu Amputation(en) oder Tod führen können. Sie müssen ganz und lebendig für das Regime bleiben. Für die Monster kommt hinzu, dass das Salz in den Wunden die Schmerzen verstärkt. Die Schläge auf die Gelenke wurden auch ausgeführt, als er mit Handschellen an die Decke gefesselt war oder kopfüber hing. Eine bekannte Methode in den Folterkammern Marokkos, wie auch im Buch „Unser Freund der König von Marokko – Abgründe einer modernen Despotie“ von Gilles Perrault beschrieben wurde.
Bei den Verhören wollen die Henker vor allem eines wissen, wo die Waffen sind – obwohl es keine gibt. Um die Antwort zu bekommen, setzen sie in der Folterkammer voll auf die Grausamkeit der Gewalt. Aarrass erinnert sich an jedes schreckliche Detail, obwohl man meinen sollte, dass der Verstand zum Schutz solche Ereignisse absichtlich nicht so deutlich aufzeichnet.
Die Henker verwendeten unter anderem die Hubschraubermethode. In dem autobiografischen Comic Jaren van Lood – Het complex (Xtra, 2008) von Mohammed Nadrani zeigen auf Seite 32 die Zeichnungen vier und sechs, wie das aussieht.

Der Häftling hängt an Händen und Füßen oder an den Knien an einem Stahlrohr. Die Schläge mit den Gummistöcken Taten der Grausamkeit ihr Übriges.
Arrass wurde auch der Ertränkungsfolter, dem Waterboarding unterzogen. Außerdem wurden seine Genitalien durch Stromschläge verletzt. Auch die qualvoll Vergewaltigung mit einer Flasche als Marter wurde mehrfach angewandt.

Nach vier Tagen brachten sie ihn in die Rif-Stadt Nador, weil Aarrass ihnen sagte, dass die Waffen dort seien. Der einzige Weg, sie dazu zu bringen, ihn nicht mehr zu quälen, war, eine Geschichte zu erfinden. Als die Sadisten merkten, dass sich an dem vorgesehenen Ort keine Waffen befanden, wurde er auf der Polizeistation von Nador wieder misshandelt.
Zurück im Geheimgefängnis begann der Foltermarathon von neuem. Schließlich erfand Aarrass eine weitere Geschichte. Wieder musste er ins Auto steigen. Die Henker waren wahre Sadisten, denn während der Fahrt sorgte einer der Rüpel für Belustigung, indem er Aarrass fragte, ob er ihn nicht wiedererkenne. “Nur Ihre Stimme”, antwortete Aarrass. Es gab natürlich keine Waffen. Nun brachten sie Aarrass in einen Wald, wo sie ihn zusammenschlugen und mehrmals in den Boden neben seinem Kopf schossen. Er wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt und die Folter ging weiter.
Am Ende des Gesprächs mit Yuba sagt Aarrass: Das Volk wird unter dem herrschenden Königspalast erdrückt. Und diese Angst ist es, die ein Staat wie Marokko es gerne sieht.
Aber etwas hat sich geändert. In dem französischen Dokumentarfilm Un pays qui se tient sage (2020) schildert der Regisseur die Gewalt zwischen der Polizei (Robocops) und den Demonstranten während der Gelbwestenproteste, die regelmäßig in einer Schlacht endeten. Der Dokumentarfilm zeigt, dass die von der französischen Polizei angewandte Gewalt oft exzessiv ist und nichts mehr mit der einzigen Aufgabe des Gewaltmonopols zu tun hat: dem Schutz des Staates, also des Bürgers.
Das exzessive Verhalten der Polizei konnte nur durch die massive Präsenz des Auges der Telefonkamera nachgewiesen werden. Ich kann mich an die Diskussion vor Jahren über Kameraüberwachung erinnern, in der das Argument verwendet wurde, dass die Überwachung durch Videokameras kein Problem sein kann, weil man ja nichts zu verbergen hat, richtig?
Mit dem heutigen Wissen stimme ich zu, aber es ist nicht so, dass die Bürger was zu verbergen haben, es ist die Regierung und ihre Dienste. Das Verhalten von Institutionen wird von unseren Handgeräten überwacht.
Während das Zentrum der Macht, der Palast, das Volk erdrückt, wie Aarrass sagt, ist dieser in der Zwischenzeit von Millionen von Augen umgeben, die sie verfolgen und aufzeichnen. Es war das Auge der Handykamera, das uns Aufnahmen aus dem Jahr 2012 von einem gefolterten Aarrass zeigten, die erst 2015 veröffentlicht wurden.
Abschließend ist für mich mehr als klar, wie die Geschichte von Aarrass zu interpretieren ist. Es war die Stimme der Hoffnung. Das Sprichwort sagt, dass die Hoffnung als letztes stirbt, aber nachdem ich Aarrass’ Geschichte gehört habe, weiß ich, dass die Hoffnung unsterblich ist. Aarrass überlebte die Folter, indem er die Hoffnung zum Lebensprinzip machte. Durch eben diese Hoffnung wissen wir, was ihm widerfahren ist, und durch diese Hoffnung werden sich die Dinge wirklich ändern.
Das Unrecht, das Ali Aarrass angetan wurde, ist unendlich, aber die große Lektion, die er uns gibt, ist, dass die Hoffnung unsterblich ist.