Nasser Zefzafi: „Sie zwangen mich, ‚Es lebe der König‘ zu sagen, damit die Folter aufhört.“

Text des vollständigen Dialogs des politischen Gefangenen und ehemaligen Anführers der Volksbewegung im Rif, Nasser Zefzafi, mit der spanischen Zeitung El Mundo.
Nasser Al-Zafzafi, das prominente Gesicht der Rif-Bewegung, die Ende 2016 nach dem qualvollen Tod von „Mohsen Fikri“ im Rif in Gang gesetzt wurde. Dieser Aktivist prangerte die Marginalisierung und Vernachlässigung an, unter der die Region seit Jahrzehnten durch die marokkanische Zentralregierung leidet. Er wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, eine der härtesten Strafen seit Mohammeds Thronbesteigung. Nachdem er seinen Hungerstreik beendet hatte, gab er der spanische Zeitung „El mundo“ ein Interview aus dem Gefängnis.
Nasser Zafzafi (Al Hoceima, Rif, 1978), ein Elektroniker, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Handys und Computer zu reparieren, wurde über Nacht zum Anführer der Proteste im Land. Er leitete die Demonstrationen gegen die desolate soziale und wirtschaftliche Situation, in der die Region seit Jahrzehnten in einem der am stärksten unterdrückten Gebiete des Landes in Nordafrika lebt. Er ist einer der Führer der Volksbewegung im Rif. Er erschien im Oktober 2016 nach dem Tod des Fischverkäufers Mohsen Fikri, der von einem Müllcontainer auf Anweisung der Polizei zerquetscht wurde, als er gegen die Konfiszierung seiner Ware protestierte.
Zefzafi war im Rif berühmt dafür, Videos auf YouTube zu veröffentlichen, die die Politik des Regimes, Isolation und Marginalisierung des RIFs durch die zentralen Autorität ständig anprangerten. Nachdem Mohsen Fikri getötet worden war, führte Nasser die Rif-Proteste an, zusammen mit tausenden von Rif Aktivisten, die ebenfalls verhaftet und verurteilt wurden. Das Ausmaß an brutaler Unterdrückung, Repression und politische Verfolgung hatte Marokko seit der Thronbesteigung Mohammeds VI. so noch nicht gesehen. Die Zeitung El Mundo konnte mit dem Rif Aktivisten sprechen, der sich im Tanger-2-Gefängnis befindet, wo er seine Haftstrafe verbüßt, nachdem er seinen Hungerstreik beendet hatte, um gegen die Situation politischer Gefangener aus dem Rif in Marokkanischen Gefängnissen zu protestieren.
Nach Beantwortung der von der Zeitung gestellten Fragen kündigte Nasser Zefzafi in einer am Donnerstag, den 22. April 2021 durch seines Vaters Ahmed Zefzafi auf der Facebook-Plattform veröffentlichten Erklärung an, dass er seine Verantwortung nach vier Jahren der Führung der Bewegung aufgeben werde. „Meine Träume von Einheit sind verflogen und kollidieren mit internen Konflikten“ und beschuldigt „Menschen“, die von Führung, Ruhm und Selbstfokus besessen sind, „die die Bewegung daran gehindert haben als einheitliche Bewegung, fortzufahren“ Obwohl er die Bewegung nicht aufgibt, wird er die Führung verlassen und sagt: „Ich verlasse den Raum für andere, die dort Erfolg haben können, wo ich versagt habe.“
Frage: Das Gericht in Casablanca verurteilte Sie zu vier Monaten bis 20 Jahren Gefängnis. Dies sind beispiellose harte Strafen seit der Thronbesteigung von Mohamed VI. Was halten Sie von diesen Strafen?
Antwort: Die Gerichtsverfahren, nach denen wir verurteilt wurden, waren voller Verstöße, und dies wurde auch von mehreren internationalen Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen bestätigt, die politische Prozesse überwachen und beobachten. Ich weiß sehr gut, dass es nicht nur eine Verurteilung von Nasser Zefzafi ist, sondern eine Verurteilung der Bewegung und des gesamten RIFs. Wenn die Befreiung meines Volkes in meiner Verhaftung liegt, bin ich stolz. Aber es muss gesagt werden, dass wir dort ankommen konnten, wo es uns die Bedingungen erlaubten.
Die Frage: Die Europäische Union besteht darauf, dass sie sich mit den Ereignissen im Rif und den Entscheidungen der Hirak-Aktivisten in einem Land befasst, das sie für strategisch für die Handels- und Sicherheitsinteressen Europas halten. Glauben Sie, dass Europa aus Angst vor Marokko weggeschaut hat, um nicht die strategische Allianz zu untergraben?
Antwort: Europa darf nicht in die andere Richtung schauen, während die Menschenrechte verletzt werden, nicht nur auf im Rif, sondern auf der ganzen Welt. Die Handelsbeziehungen zwischen Marokko und dem alten Kontinent sollten nicht über den Interessen der Verteidigung der Menschenrechte liegen. Das Ansehen und die Werte der Europäischen Union sollte nicht mit den Fischereiabkommen mit Marokko verbunden sein. Die Europäische Union hat ist die Verteidigung der Menschenrechte als wichtige Grundbaustein und wenn (Politiker) sie jetzt aus ihrer Sicht für strategische Angelegenheiten niederreissen wollen, ist das sehr enttäuschend. Und hier muss ich darauf hinweisen, dass der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, 2018 sein Engagement für uns zum Ausdruck gebracht hat, nachdem ich für den Sacharow-Preis zur Verteidigung unserer Sache nominiert worden war. Wir sind absolut zuversichtlich, dass die Verteidigung der Menschenrechte einen höheren Stellenwert hat als jedes strategische oder geopolitische Interesse.
Frage: Nach dem Tod des Fischverkäufers, waren Sie in Al Hoceima eine berühmte Persönlichkeit durch Ihren politischen Aktivismus in den sozialen Medien. War das der Grund warum sie die Führung der Proteste zur Forderung soziale Gerechtigkeit für das Rif übernommen haben?
Antwort: Erstens habe ich mich nicht als Führer über irgendjemanden betrachtet, und ich glaube, dass die Führung für den Erfolg einer Protestbewegung geteilt werden muss. Am Tag von Mohsen Fikri’s Tod befand ich mich, ohne es zu merken, in der Menge der Demonstranten, die sich mit dem Geschehen befassten und es anprangerten. Wenn eine Person nicht in der Lage ist, zu helfen und Unmut kundzutun, können wir sagen, dass die Welt in einem schlecht Zustand sich befindet. Das Martyrium von Mohsen Fikri wäre ohne die Korruption, Ungerechtigkeit und soziale Diskriminierung, unter der die Menschen leiden, nicht geschehen. Wie kann man über solche Dinge schweigen? Einfache Menschen haben auch das Recht auf Leben.
Frage: Sie wurden Tage nach Ihrer Rede in einer Moschee festgenommen, in der Sie unter anderem beschuldigt wurden, die Freitagspredigt boykottiert zu haben. Haben Sie jemals über die Konsequenzen nachgedacht?
Antwort: Ich habe keine harte Rede gehalten. Ich antwortete auf auf die Predigt des Imams der Moschee, in der ich lebe. Es war eine eklatante Predigt, in der er die Unterdrückungspolitik des Regimes gegen die friedliche Rif-Bewegung lobte. Die Antwort auf diesen Imam war notwendig. Was an diesem Tag in der Moschee geschah, ist ein klares Beispiel für den politischen Missbrauch von Moscheen und Kultstätten durch das Regime.
Frage: Ihre Familie und die Anwälte haben das Regime beschuldigt, dass Sie während der Haftzeit körperlichen Übergriffen und Beleidigungen ausgesetzt waren. Können Sie sich an diese Momente erinnern?
Antwort: Ich war im Haus eines Freundes, genau mit der Person, die später mein Zellengenosse wurde, Muhammad al-Haki. Gegen fünf Uhr morgens erwachte ich durch ein lautes Geräusch und war überrascht von der großen Anzahl maskierter Menschen, mehr als zwanzig Menschen vor mir. Ohne Uniform oder Ausweis fingen sie an, mich zu schlagen und zu foltern, ohne ein Wort zu sagen. Sie schlugen uns mit spöttischem Lachen, während ich nur versuchte, meinen Kopf zu schützen. Plötzlich griffen sie mich mit einem sehr scharfen Gegenstand auf der rechten Seite des Kopfes an, wodurch mir schwindelig wurde. Dann zogen sie mich aus und banden meine Füße und Hände hinter meinem Rücken. Sie fingen an, Dinge in meinen Anus zu schieben. Einer der maskierten Männer näherte sich mit seinem Penis meinem Gesicht und fing an, es auf meinem Gesicht zu reiben. Eine andere Person urinierte auf mein Gesicht und brachte dann seinen Penis näher an die Analöffnung. In diesem Moment bettelte ich , dass ich es nicht ertragen konnte, um dann noch einen Schlag zu erhalten, der mich bewusstlos machte. Sie befahlen mir, laut „Es lebe der König“ zu sagen, damit die Folter aufhört. All dies geschah, während einer von ihnen mit seinem Handy die Szenen filmte. Mein Körper konnte damit nicht umgehen und ich sagte „Es lebe der König“, um die Folter zu stoppen.
Frage: Sie und einige Ihrer Kollegen haben seit Ihrer Inhaftierung mehrere Hungerstreiks durchgeführt, um gegen die Misshandlung und Trennung der Hirak-Häftlinge zu protestieren. Dank dieser Streiks konnten sich einige Aktivisten dann in Tanger zusammen finden. Obwohl sie wissen, dass diese Art von Protest Ihre Gesundheit schädigt, ist es das Risiko wert gewesen?
Antwort: Natürlich lohnt es sich. Es ist das einzige Mittel des friedlichen Kampfes, das wir in diesen Gefängnissen haben. Wenn Sie feststellen, dass zwei Grundrechte mit Füßen getreten werden, z. B. das Recht auf Spielraum, das Recht auf Telefonie mit Familie und Freunden, das Recht auf Gesundheit oder Mindesthygienebedingungen, müssen Sie hier strenge Maßnahmen ergreifen, um dies sicherzustellen. Sie müssen Ihre psychologische Stärke und Ihren kollektiven Geist bewahren, weil die Zerstreuung und der Transfer von Gefängnis zu Gefängnis unsere emotionale Stabilität destabilisieren und wir Protestschritte unternehmen müssen, um unsere Rechte im Gefängnis zu gewährleisten. Dies wird niemals der Fall sein, wenn man sich der Vergeltungspolitik des Gefängnisinsassen unterwirft.
Frage: Glauben Sie, dass es eine Verständigung zwischen den beiden Parteien geben könnte, wenn der marokkanische Staat auf die Forderungen des RIFs hören würde, aus der in der Menschenrechtsakte für die Bewegung festgelegten wirtschaftlichen und sozialen Krise herauszukommen? Wenn zum Beispiel Mediation von internationalen Organisationen vorgeschlagen würden?
Antwort: Die Rif Bewegung hat immer mit dem Staat zusammengearbeitet, um die Grundlagen für einen ehrlichen Dialog zur Lösung der Forderungen der Bevölkerung zu schaffen. Hier im Gefängnis besuchten wir mehrere Mediatoren, die vom Staat vorgeschlagen wurden, aber die getroffenen Verpflichtungen und Vereinbarungen nicht garantierten. Diese falschen Versprechen haben in den nächsten Schritten ein komplexes Klima des Misstrauens geschaffen. In Bezug auf die Möglichkeit der Vermittlung durch internationale Parteien sind wir unsererseits für alle offen, und es muss gefragt werden, ob die andere Partei dazu bereit ist.
FRAGE: Lange Stunden im Gefängnis geben Ihnen Zeit zum Nachdenken. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ob Sie sich in der Art und Weise, wie Sie sich während der Proteste verhalten haben, geirrt haben?
Antwort: Die Entscheidungen der Bewegung sind kollektiv, die Erfolge und Fehler waren kollektiv, und Entscheidungen wurden immer von öffentlichen Gruppen getroffen. Wir haben natürlich Fehler gemacht, und meiner Meinung nach war der Hauptfehler das Vertrauen, dass die Blei-Jahre von Hassan 2 vorbei waren. Und der Glaube, dass das neue Regime in einer globalisierten, technologischen Welt, in der das Internet der Welt das wahre diktatorische Gesicht des Regimes zeigen kann, nicht dieselben Repressionsmechanismen anwenden wird. Das Regime entschied sich dafür, sein Image vor der internationalen Gemeinschaft zu verzerren, anstatt die Menschenrechtsakte der Bewohner zu untersuchen. Wir glauben, dass Verhandlungen hätten geführt werden können, um unsere Region von der historischen Marginalisierung und der absichtlichen Ausgrenzung, der wir ausgesetzt waren, zu befreien.
Frage: Wie sehen Sie die Zukunft der Rif Volksbewegung?
Antwort: Ich kann die Zukunft des Hirak nicht aus meiner Zelle vorhersagen, was eine Frage der Volksmassen ist. Dazu muss ein Dialog für Amnestie und ein Ende der politischen Verfolgung eröffnet werden, die es den Exilanten ermöglichen würde, zurückzukehren und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie nicht verhaftet werden. Es gibt Tausende von Rif Aktivisten, die beschlossen haben, auf den Wellen des Meeres zu reiten und ihr Leben zu riskieren, anstatt Verhaftungsprojekte zu sein. Das System musste auch auf die Menschenrechtsakte der Bewegung reagieren. Unser Land hat es verdient, und ich fordere die marokkanischen Bürger auf, sich diesem Prozess des historischen Wandels anzuschließen, nicht die Freiheit von Nasser Zefzafi zu fordern, sondern die Freiheit des gesamten Landes zu fordern. Wir zahlen teuer für unseren Kampf, aber es lohnt sich, denn Emanzipation kann ganz einfach nicht ohne Leiden geschehen. Persönlich wurde ich 2017 in Nador und Ait Abdallah in Al Hoceima unter Folter verhaftet, wie jeder weiß. Dann wurde ich zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Meine Opfer waren nicht für ein privates Interesse auch wenn man mir und meiner Familie viele Dinge angeboten haben, was ich aber völlig abgelehnt habe. Ich denke, es ist nicht die Zeit, sie zu offenbaren.